Gerichtsurteil zur Verminderung der Überschussbeteiligung in der privaten Rentenversicherung

Darf ein Versicherungsunternehmen mit Beiträgen, Überschüssen oder Leistungen werben, von denen es bei Vertragsabschluß bereits weiß, dass Beitragserhöhungen, Senkungen von Überschussbeteiligungen oder von Leistungen erforderlich sind? Wie sollte ein Versicherer informieren, wenn die Lebenserwartung sich verändert, die Schäden steigen oder die Kapitalerträge zurückgehen? Muss der Versicherer den Kunden über diese Tatsachen auch ungefragt aufklären? Kann der Kunde verlangen, dass Beiträge, Überschüsse oder Leistungen in der ursprünglich in Aussicht gestellten Höhe weiter gelten? Ein Beispiel aus der privaten Rentenversicherung soll dies beleuchten:

Viele Kunden haben im Jahr 1995 private Rentenversicherungen abgeschlossen und wurden dann kurze Zeit später vom Versicherer über eine Kürzung der Überschussbeteiligung informiert. Die zunächst in Aussicht gestellten Renten sanken dadurch beträchtlich. Muss der Versicherte dies hinnehmen?
 

Stellungnahme der Aufsichtsbehörde

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht beantwortet diese Frage wie folgt:

Versicherungsnehmer, die ab Ende 1994 Rentenversicherungsverträge abgeschlossen haben, denen die Sterbetafel von 1987 zugrundegelegt worden ist, müssen eine später erfolgte Herabsetzung der Überschussbeteiligung wegen der zunehmenden Lebenserwartung nach einem Urteil des OLG Düsseldorf vom 15.08.2000 (AZ: 4 U 139/99) nicht hinnehmen, wenn ein Versicherungsunternehmen mit Leistungen geworben hat, von denen es wusste, dass sie in dieser Höhe aufgrund der geänderten Sterbetafeln in Zukunft nicht weiter erbracht werden können. Mit Schreiben vom 26.09.1994 hatte die Deutschen Aktuarvereinigung die Versicherer bereits auf eine erhebliche Verbesserung der Sterblichkeit und die damit verbundenen Anforderungen an die Rückstellungsbildung hingewiesen. Es war den Versicherungsunternehmen dann ab diesem Zeitpunkt bekannt, dass sie Leistungen in der bisherigen Höhe aufgrund der aktuellen Entwicklungen zukünftig nicht mehr erbringen können.
 

Sterbetafel 1994R der DAV

Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) untersuchte in 1994 die Entwicklung der Lebenserwartung in Rentenversicherungstarifen und stellte bereits in ihrer Mitteilung Nr. 3/94 vom 26.09.1994 an die Aktuare fest, dass die „vorliegenden Zwischenergebnisse eine erhebliche Verbesserung der Sterblichkeit und daraus resultierend entsprechende Anforderungen an die Rückstellungsbildung“ belegen. „Vorläufige Berechnungen auf der Basis von Zwischenständen zeigen, dass sich bei gleicher garantierter Rente und einem Rechnungszins von 3,5 % der Nettobeitrag eines Mannes für eine aufgeschobene Rente (Aufschubzeit 30 Jahre) sowie eine sofort beginnende Rente um jeweils mehr als 20 % erhöht (Rentenbeginnalter jeweils 60 Jahre).“

Die neue Sterbetafel wurde vom BAV in den VerBAV vom Februar 1995 S. 79 veröffentlicht: „Neue Rechnungsgrundlagen in der Lebensversicherung mit Erlebensfallcharakter“ (Veröffentlichung der von der Deutschen Aktuarvereinigung erstellten DAV Sterbetafel 1994R).
 

Werbung mit unrealistischen Überschüssen

Die meisten Versicherungsunternehmen warben jedoch in 1995 zunächst weiter mit den nun als veraltet anzusehenden Tarifen und informierten Antragsteller auch nicht über die Tatsache, dass die verwendeten Rechnungsgrundlagen nicht ausreichen und deshalb eine Senkung der Überschussbeteiligung abzusehen war.

In den VerBAV 8/1995 vom August 1995 (S. 287) wies die Versicherungsaufsichtsbehörde darauf hin, dass spätestens für Verträge, die nach dem 31.12.1995 abgeschlossen werden, die Deckungsrückstellung gemäß DAV-Sterbetafel 1994R zu berechnen sei. Ferner verbot die Aufsichtsbehörde gleichzeitig die Werbung mit Überschussanteilen, bei denen eine künftige Herabsetzung bereits absehbar sei.

Keine Versicherungsgesellschaft konnte sich also ab Ende 1994 darauf berufen, sie habe zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass sie mit unrealistischen Überschüssen wirbt. Sie kann sich auch nicht darauf berufen, dass die Aufsichtsbehörde selbst die Verwendung der Sterbetafel 1994 R für neue Verträge erst spätestens ab 01.01.1996 verlangte.

Von einer Herabsetzung der Überschussrenten Betroffene konnten also darauf bestehen, dass der Vertrag entweder aufgehoben und Schadenersatz geleistet wird oder das gegebene Gewinnversprechen – etwa in Beispielrechnungen und Vertragsangeboten – erfüllt wird. Allerdings ist die fünfjährige Verjährungsfrist gemäß § 12 (1) Versicherungsvertragsgesetz (VVG) zu beachten, die ab dem Schluss des Jahres läuft, in dem die Leistung (hier die laufende Rente) erstmals verlangt werden kann.
 

Rechtsauffassung durch Gerichtsurteil bestätigt

Das Urteil des OLG Düsseldorf vom 15.08.2000 Az.: U 139/99 gab der Klage eines Versicherungsnehmers auf Schadenersatz statt. Danach muss der Versicherer die eingezahlten Beiträge zurückerstatten und auf diese Prämien Schadenersatz in Höhe von 4 % leisten, weil der Kunde das Geld nicht anderweitig Gewinn bringend einsetzen konnte.

Das Urteil des OLG Koblenz vom 26.05.2000 Az.: 10 U 1342/99 bestätigt darüber hinaus, dass Betroffene auch verlangen können, die durch die Sterbetafel 1994 R be­dingte Kürzung der Überschussrente rückgängig zu machen. Wirbt ein Versicherungsunternehmen mit Leistungen, obwohl ihm zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bekannt ist, dass es die Leistungen in dieser Höhe aufgrund aktueller Entwicklungen nicht mehr erbringen kann, ist es ihm nach Treu und Glauben verwehrt, die Überschussbeteiligung des Versicherungsnehmers aufgrund dieser Entwicklung herabzusetzen.

Dieses Urteil (abge­druckt auch in der Zeitschrift Versicherungsrecht 2000, S. 1357f) verdeutlicht die Grenzen erlaubten AVB-Wettbewerbs. Es ging um eine Leibrentenversicherung von mtl. ca. 3.800,- DM, für die eine Klausel vorsah, dass ein enthaltener Anteil von 1350,- DM nicht gewährleistet ist, weil er vom Versicherungsunternehmen abhängig von veränderbaren Überschussanteilen herabgesetzt werden konnte. Nach 2 Jahren Laufzeit kürzte der Versicherer die Rente um ca. 350,- DM unter Hinweis darauf, dass die Lebenserwartung stark angestiegen sei.

Das Gericht stellte fest, dass dem Versicherer bereits bei Vertragsabschluss die Sterbetafel 1994R bekannt gewesen sei, die die ungünstigere Überschusserwartung schon von Anfang an wesentlich begründet hätte. Da der beklagte Versicherer sich trotzdem zu der überhöhten Rentenzahlung verpflichtet habe, sei die Anwendung der Vertragsanpassungsklausel treuwidrig, soweit sie mit den bereits bei Vertragsschluss absehbaren Umständen begründet wurde. Hätte die Beklagte einen entsprechenden Hinweis auf die ungünstigere Sterbetafel gemacht, wäre es dem Kläger möglich gewesen, bei einem anderen Versicherer einen Rentenversicherungsvertrag abzuschließen, der bereits die Sterbetafel 1994R verwendet.

Die Verbraucherzentrale NRW hat hierzu weitere Unterlagen zusammengestellt. Dort ist auch eine Liste von Rechtsanwälten erhältlich, die mit dem Thema vertraut sind. Viele Versicherte konnten auf diese Weise ihre Ansprüche durchsetzen.
 

Transparenz durch Sachverständige

Dies zeigt, dass zwar nach ersten Urteilen – ggf. aufgrund von Prozessen, die durch alle Instanzen geführt werden – eine einfache Durchsetzung solcher Ansprüche möglich ist. Für diejenigen aber, die mangels aureichender Sachkenntnis ihre Ansprüche nicht innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist gerichtlich geltend gemacht haben, ist es dagegen zu spät.

Die fünfjährige Verjährungsfrist beginnt nach § 12 (1) VVG erst mit dem Schluss des Jahres, in welchem die Leistung verlangt werden kann. Wenn also bei aufgeschobenen Rentenversicherungen die Rentenzahlungen noch gar nicht begonnen haben, so ist die Verjährung auch noch nicht in Gang gesetzt worden. Ebenso können bei laufenden Renten noch Ansprüche hinsichtlich der Renten des laufenden und der fünf vorangegangenen Jahre gestellt werden. Die Verjährung beginnt also nicht mit dem Vertragsabschluss.

Einige Unternehmen verweigern die Rentenerhöhungen, weil sie die fehlenden Rückstellungen inzwischen nachfinanziert haben. Auch wird vorgebracht, dass Rentenminderungen durch den Rückgang der Kapitalerträge und nicht durch die die Sterbetafel verursacht seien. Hier empfliehlt sich eine genauere Prüfung durch den versicherungsmathematischen Sachverständigen, um die tatsächlichen Anteile der Ursachen festzustellen; ggf. ist zumindest ein Teil der Rentenminderung unzulässig. Bei einer Nachfinanzierung aus anderen Überschüssen - z. B. Zinsüberschüsse - vermindern sich diese, obwohl sie ggf. in Beispielrechungen enthalten sind.

Auch dann waren diese Beispielrechnungen unrealistisch, denn die Überschüsse konnten wegen der unrealistischen Sterbetafel nicht wie vorgesehen verwendet werden, weil sie nachträglich zur Nachfinanzierung der fehlenden Rückstellungen für die zugesagten Renten benötigt wurden. Auch dadurch vermindert sich die Rentenzahlung oder die Kapitalabfindung, denn es stehen weniger Überschüsse als zunächst geplant zur Verfügung. Auch hier können sich also Schadenersatzansprüche ergeben, wie der Sachverständige auch auf der Seite Ueberschussbeteiligung ausführt.

Wenn daher in vergleichbaren Fällen Ansprüche vermutet werden, empfiehlt es sich, die Hintergründe zunächst durch einen Sachverständigen für Versicherungsmathematik prüfen zu lassen. Zwar darf ein öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Versicherungsmathematik keinen rechtlichen Rat geben, aber ohne einen versicherungsmathematischen Sachverständigen sind die meist versicherungsmathematischen Zusammenhänge kaum aufzuklären. Der vereidigte Sachverständige für Versicherungsmathematik kann dort Transparenz herstellen, wo sie ein Versicherer im konkreten Fall vermissen lässt.
 

Sterbetafel 1994R der DAV bereits wieder veraltet?(Stand Dezember 2003)

Seit längerer Zeit bestehen Erkenntnisse, dass die Sterblichkeit stärker zurückgeht, als dies in der Sterbetafel 1994R der DAV berücksichtigt wird. Die Untersuchungen ziehen sich jedoch in die Länge, so dass vermutlich erst im Jahr 2005 endgültig eine neue Sterbetafel zur Verfügung steht. Dazu bemerkt der Ausschuss Lebensversicherung der DAV in Der Aktuar, Dezember 2003, S. 125:

Die Arbeitsgruppe Biometrische Rechnungsgrundlagen überprüft die Rechnungsgrundlagen für Erlebensfallversicherungen. Im Vordergrund steht die Frage, wie die beobachtete Sterblichkeitsverbesserung auch zukünftig aktuariell angemessen berücksichtigt werden soll. Um die Untersuchung auf eine möglichst breite Datengrundlage zu stellen, sollen auch Daten des Jahres 2002 einbezogen werden. Hierdurch werden sich die Arbeiten bis in das Jahr 2004 erstrecken.

Die Werbung mit einer als veraltet erkannten Sterbetafel 1994R könnte allerdings auch dann unzulässig sein und ähnliche Rechtsfolgen wie seinerzeit bei der Änderung der Sterbetafel 87R haben, wenn eine neue Sterbetafel noch nicht endgültig feststeht. Seit wann genau bekannt ist, dass die Sterbetafel 1994R nicht mehr als ausreichend vorsichtig nachgewiesen gelten kann, wäre nur mit internen Unterlagen der betroffenen Ausschüsse und Unternehmen nachweisbar. Dr. Christian Netzel vermutet in "Anmerkungen über Rechnungsgrundlagen für Rententarife" (Der Aktuar, Dezember 2003, S. 119ff), dass es bereits bei Einführung der Sterbetafel 1994R hätte bekannt sein können, dass diese Sterbetafel damals schon unzureichend war:

Bei der DAV 1994 R wurde erstmals ein Sicherheitszuschlag benutzt, der jedoch zu knapp bemessen war, indem die damals aktuelle Sterblichkeitsabnahme nur als vorübergehend eingestuft und lediglich auf einen begrenzten Zeitraum angewendet wurde. Man verließ sich offenbar ganz auf die Sicherheitsmarge des Rechnungszinses.
 

Verallgemeinerung auf zinsbedingte Vertragsanpassungen

Insbesondere das in den letzten Jahren starke Fallen der Zinsen hat mittlerweile zu einer erheblichen Reduzierung der Überschussbeteiligung in der Lebensversicherung geführt. Prof. Dr. Harald Herrmann vom Institut für Versicherungswissenschaften an der UNIVERSITÄT ERLANGEN-NÜRNBERG stellt im Beitrag „Meilensteine der Europäisierung 2000“ unter Bezugnahme auf das o. g. Urteil des OLG Koblenz fest:

Die Entscheidung stellt ersichtlich auf die auch von der europäischen Deregulierung intendierte Markttransparenz ab. ... Aber nicht nur diese rechtssystematischen Erwägungen zum europarechtlich fundierten Transparenzgebot geben dem Urteil des OLG Koblenz herausragende Bedeutung, sondern es geht v.a. um dessen Verallgemeinerbarkeit für Vertragsanpassungen aufgrund absehbarer Zinsentwicklungen. Denn unter den Bedingungen intensiven Wettbewerbs auf fast allen Versicherungsmärkten, die durch die europäische Deregulierung ausgelöst wurden, werden nicht selten sowohl bei Rentenversicherungen als auch insbes. bei kapitalbildenden Lebensversicherungen Zinserwartungen zugrundegelegt, die in Anbetracht der nun schon lange andauernden Niedrigzinsphase in Deutschland wenig realistisch erscheinen und dementsprechend auch bereits auf Kritik beim BAV gestoßen sind (gegen überalterte Beispielrechnungen z.B. GB BAV 1999, Teil A, S. 48). Das Urteil des OLG Koblenz könnte dazu herangezogen werden, dass zinsbedingte Vertragsanpassungen ebenfalls als treuwidrig verboten werden.
 

Verallgemeinerung auf Beitragsanpassungen und Erhöhungen der Nettoprämie

Bei Versicherungsverträgen mit einer Beitragsanpassungsklausel müssen dagegen nicht die Leistungen oder Überschüsse reduziert werden, sondern hier können statt dessen die Prämien erhöht werden. Ist die Notwendigkeit dazu dem Versicherer bereits bei Vertragsabschluss bekannt, so könnte aus den genannten Urteilen analog geschlossen werden, dass auch diese Prämienanpassung unzulässig sind. Insbesondere kann dies der Fall sein, wenn – wie in der Berufsunfähigkeitsversicherung – die Bruttoprämien aus Überschussmitteln durch einen Beitragsvorwegabzug auf die sogenannten Nettoprämien reduziert werden. Hier führt eine Reduzierung der Überschussbeteiligung zu einer Erhöhung der Nettoprämien, die bei Übertragung des Urteils des OLG Koblenz auf diesen Fall ebenfalls unzulässig sein könnte.

Aber auch die Erhöhung der Bruttoprämien aufgrund von § 172 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) kann - z. B. in der Berufsunfähigkeitsversicherung - unter bestimmten Voraussetzungen unzulässig sein; in diesem Sinn äußert sich z.B. Esther U. Schütz, Bereichsleiterin Aktuarielle Beratung Leben/Kranken der Kölnischen Rückversicherung in einem Beitrag im Versicherungsjournal.

Für die Prämienanpassung in der privaten Krankenversicherung ergibt sich bereits aus § 12b (2)Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG), dass eine Anpassung insoweit nicht erfolgen darf, "als die Versicherungsleistungen zum Zeitpunkt der Erst- oder Neukalkulation unzureichend kalkuliert waren und ein ordentlicher und gewissenhafter Aktuar dies hätte erkennen müssen."

Als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Versicherungsmathematik in der PKV steht der Verfasser gerne bundesweit auch für Beratung und die Erstellung von Gutachten zu versicherungsmathematischen Fragen außerhalb der PKV zur Verfügung.
 


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